Filiz Polat zum Staatsangehörigkeitsrecht (28. Mai 2020)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der 1. Januar 2000 war ein Tag historischer Dimension. Die Welt startete in ein neues Jahrtausend, und in Deutschland wurde Rechtsgeschichte geschrieben. Das noch aus der Kaiserzeit stammende Blutsrecht im Staatsangehörigkeitsrecht wurde durch das Bodenrecht ergänzt. Seitdem kann nicht nur, wer von deutschen Eltern abstammt, Deutsche oder Deutscher werden, sondern auch, wer in Deutschland geboren wird.

(Zuruf von der AfD: Und das ist falsch!)

Für Barbara John, damalige Berliner Ausländerbeauftragte, CDU, und Befürworterin der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, war das – ich zitiere – eine „volle, totale Revolution“. Dieser Paradigmenwechsel war einer, wenn nicht der größte Schritt auf dem Weg zu einer modernen Einwanderungsgesellschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Andrea Lindholz [CDU/CSU])

Doch nach 20 Jahren muss endlich der nächste Schritt folgen, und zwar nach vorne und nicht zurück.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb fordern wir erstens die Ausweitung des Geburtsortsprinzips. Die deutsche Staatsangehörigkeit soll durch Geburt im Inland erworben werden können, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Alles andere macht hier geborene und aufgewachsene Menschen zu Ausländern im eigenen Land, und das ist absurd, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Wir fordern die vollständige Abschaffung des Optionszwangs und die Ermöglichung von Mehrstaatigkeit. Es muss endlich Schluss sein mit den Deutschen auf Probe. Mit dem ewigen Vorwurf der Illoyalität, der von der Union sicherlich gleich wieder kommen wird, beleidigen Sie nicht nur mich, sondern auch Millionen von Doppelstaatlerinnen in diesem Land und auch in diesem Parlament.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Drittens. Wir fordern die Abschaffung des im letzten Jahr eingeführten sogenannten Leitkulturparagrafen. Verabschieden Sie sich auch hier umgehend von der Einbürgerung unter Kulturvorbehalt! Wer das Staatsangehörigkeitsrecht endlich in dieses Jahrtausend heben und das Versprechen einer pluralen Demokratie einlösen möchte, sollte sich uns und unserem Antrag anschließen statt den Ewiggestrigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP])

Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit. Es würde unsere Demokratie und unsere Einwanderungsgesellschaft stärken, wenn Kinder und Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte in dem Bewusstsein aufwachsen, dass sie ohne Wenn und Aber zu dem Land gehören, in dem sie leben und in dem sie geboren wurden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Doch alldem zum Trotz erleben wir in den letzten Jahren einen traurigen Rollback. Die Union will das moderne Staatsangehörigkeitsrecht aushöhlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, verteidigen Sie diesmal mit uns unsere gemeinsamen Errungenschaften! Sie wissen uns und viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte an Ihrer Seite.

Deutsche haben unterschiedliche Wurzeln, unterschiedliche Hautfarben, verschiedene Religionszugehörigkeiten oder auch gar keine und heißen nicht mehr nur Müller, Meier oder Schulze. Diese Vielfalt ist nicht nur ein Zugewinn, sondern unsere Stärke und essenziell für die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie und unserer Gesellschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das muss sich endlich im Staatsangehörigkeitsrecht widerspiegeln; denn die Gleichberechtigung ist der erste Schritt zur Gleichstellung.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)